Der neue Volvo EX90 soll die Zahl schwerwiegender Unfälle um bis zu 20 Prozent reduzieren. Die beiden Sicherheitsexperten Emma Tivesten und Joachim Verdier erklären, wie das möglich ist.
Nachdem Volvo Cars sich in den letzten Jahren vor allem auf Elektrifizierung und Nachhaltigkeit fokussierte, rückt der neue Volvo EX90 wieder das Kernthema Sicherheit in den Vordergrund. Zurück zu den Wurzeln also?
Emma Tivesten: Sicherheit stand bei Volvo Cars schon immer im Vordergrund. Das war in der Zeit, als wir viele Innovationen im Bereich der Elektrifizierung und Nachhaltigkeit präsentiert haben, nicht anders. Der Unterschied beim Volvo EX90 ist, dass er neuartige Technologien nutzt, die das Thema auf ein anderes Level heben.
Joachim de Verdier: Wir glauben, dass der Volvo EX90 der sicherste Volvo ist, der jemals auf die Strasse gerollt ist. Dahinter steckt nichts weniger als ein Technologiewechsel.
Der Volvo EX90 ist der sicherste Volvo,
der jemals auf die Strasse gerollt ist.
Joachim de Verdier
Können Sie etwas genauer auf diesen Technologiewechsel eingehen?
De Verdier: Beim Volvo EX90 setzen wir 8 Kameras, 5 Radargeräte und 16 Ultraschallsensoren ein, um die Fahrzeugumgebung zu erfassen und mithilfe von Assistenzsystemen Unfälle zu vermeiden. Ergänzt werden diese mit der sogenannten Lidar-Technologie. Dabei handelt es sich um einen Impulslaser, der Objekte noch besser erkennt – aus noch weiterer Entfernung, mit noch höherer Genauigkeit und sogar bei Dunkelheit und Schlechtwetter. Das ist ein entscheidender Vorteil, um in komplexen Verkehrssituationen richtig reagieren zu können.
Was verstehen Sie unter einer komplexen Verkehrssituation?
De Verdier: Zum Beispiel eine Kreuzung, bei der zahlreiche Fahrzeuge unterschiedlich schnell aus unterschiedlichen Richtungen herannahen. Mit der bisherigen Sensortechnik gelang es nur bedingt, eine solche Situation vollständig zu erfassen. Im Zweifelsfall reagierten die Assistenzsysteme eher zurückhaltend, weil etwa das Einleiten einer Notbremsung oder Spurkorrektur zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen kann. Dank der neuen Lidar-Technologie erhalten wir mehr und bessere Informationen, um mutiger handeln zu können. Wenn alle unsere Sicherheitssysteme, Sensoren, Software und Rechenleistung zusammenkommen, schaffen sie einen präventiven Schutzschild um den Fahrer herum.
Welche Rolle spielt die neue Sensortechnik im normalen Alltag?
De Verdier: Um dem Lidar-Sensor eine bessere Übersicht zu verschaffen, haben wir ihn auf dem Dach platziert, statt ihn auf Kniehöhe in der Frontmaske zu verstecken. Das macht ihn von aussen deutlich sichtbar und zum Symbol einer neuen Ära der Sicherheit. Am Steuer nehmen Sie die neue Technologie hingegen nur dann wahr, wenn die Assistenzsysteme zum Einsatz kommen, die der Sensor zur Unfallvermeidung nutzt. Weil Lidar nicht nur Objekte erkennt, sondern auch Leerräume identifiziert, spielt die Technologie ausserdem eine tragende Rolle beim autonomen respektive derzeit noch assistierten Fahren.
Wie weit ist der Volvo EX90 in Bezug auf das vollautonome Fahren?
De Verdier: Aus Hardware-Sicht ist der Volvo EX90 voll ausgerüstet – von den Sensoren über die Rechenleistung bis zum redundanten System an Bord ist alles darauf ausgelegt, dass das Fahrzeug selbstständig fahren kann. Sobald die Sicherheitsüberprüfungen abgeschlossen sind und die erforderlichen Genehmigungen vorliegen, werden wir die entsprechende Software lancieren. Bis dahin wahrt der Mensch die Kontrolle über das Fahrzeug – womit wir bei der zweiten grossen Neuerung wären, dem «Driver Understanding System», kurz DUS, das für das erste Fahrerverständnissystem von Volvo Cars steht.
Was hat es mit diesem Fahrerverständnissystem auf sich?
Tivesten: Wie der Name schon andeutet, geht es darum, mehr über die Verfassung der Person am Steuer zu erfahren. Konkret: Wohin sie schaut und wie oft, und wie lange ihre Augen geschlossen sind. Aufgrund unserer Forschungsergebnisse wissen wir, dass, wenn jemand am Steuer einschläft, oft nur wenige Sekunden vergehen, bis das Fahrzeug von der Strasse abkommt. Sobald das System also registriert, dass jemand aufgrund von Schläfrigkeit, Ablenkung oder Trunkenheit die Kontrolle über das Fahrzeug zu verlieren droht, kann das Fahrzeug geeignete Unterstützungsmassnahmen einleiten.
Worin liegt der Unterschied zu den heutigen Müdigkeitserkennungssystemen?
Tivesten: Das aktuelle «Driver Alert Control System» erhält aufgrund des Lenkverhaltens und Spurhaltevermögens Hinweise, wenn die Person am Steuer von einer normalen Fahrweise abweicht, und rät dann zu einer Pause. Zu den bestehenden Sensoren hinzu kommen nun zwei Kameras – die eine sitzt hinter dem Lenkrad und die andere mittig auf dem Armaturenbrett –, die auf die Augen des Fahrers gerichtet sind. Aber auch das kapazitative Lenkrad des neuen Volvo EX90 hilft bei der Beurteilung: Es überwacht die Stabilität der Lenkeingabe und erkennt, wenn der Fahrer das Lenkrad loslässt. Diese Kombination aus Sensoren und Kameras verrät mehr über den Gemüts- und Gesundheitszustand des Fahrers, als je zuvor möglich war.
Haben Sie keine Bedenken, dass sich die Fahrer damit unter ständiger Beobachtung fühlen?
Tivesten: Ich kann diese Bedenken nachvollziehen, aber auch zerstreuen. Denn ermittelt werden einzig und allein die Blickmuster des Fahrenden. Das Videomaterial wird nicht gespeichert, sondern in Echtzeit durch unsere patentierten Algorithmen verarbeitet. Natürlich müssen wir Daten sammeln, um unser System überprüfen und laufend verbessern zu können. Doch das geschieht nicht über unsere Kunden, sondern im Rahmen von Forschungsstudien, für die wir rekrutierte Personen gezielt unterschiedlichen Testsituationen aussetzen.
Die neuen Sicherheitssysteme im Volvo EX90 sorgen dafür,
dass es gar nicht erst zu Unfällen kommt.
Emma Tivesten
Was passiert genau, wenn das System Schläfrigkeit oder sogar Sekundenschlaf registriert?
Tivesten: Zunächst einmal gibt es ein akustisches Warnsignal, dessen Lautstärke mit dem Gefahrenpotenzial der Situation zunimmt. Reagiert die Person gar nicht, etwa im Falle einer Bewusstlosigkeit, kann das Auto selbstständig am Strassenrand anhalten, andere Verkehrsteilnehmer durch Einschalten des Warnblinklichts warnen und sogar einen Notruf absetzen. Entscheidend ist, dass das Verständnissystem mit allen anderen, wegweisenden Sicherheitssystemen im neuen Volvo EX90 verschmolzen ist.
Können Sie in Zahlen ausdrücken, wie viel die neuen Sicherheitssysteme im Volvo EX90 bringen?
De Verdier: Die Analyse unserer Unfalldatenbank deutet darauf hin, dass sich die Zahl schwerer Verkehrsunfälle allein durch die Lidar-Technologie um 20 Prozent reduzieren lässt. Die neuen Sicherheitssysteme sind somit ein wichtiger Schritt zur Realisation unserer Unternehmensvision, wonach niemand mehr in einem neuen Volvo getötet oder schwer verletzt werden soll.
Tivesten: Den Nutzen des Fahrerverständnissystems zu quantifizieren, fällt etwas schwerer, aber zweifelsohne ist auch sein Potenzial riesig. Sie müssen bedenken, dass rund 90 Prozent aller Unfälle auf menschliches Fehlverhalten zurückgehen. Menschen machen nun mal Fehler, und diese werden durch das neue Sicherheitsfeature abgefedert.
Es ist die Rede vom Beginn einer neuen Ära. Sind die neuen Sicherheitsfeatures tatsächlich so bedeutsam, wie es etwa der Ende der 1950er-Jahre von Volvo eingeführte Dreipunkt-Sicherheitsgurt war?
De Verdier: So wie der Dreipunkt-Sicherheitsgurt ein Gamechanger zur Rettung von Leben war, werden es auch die neuen Systeme im Volvo EX90 sein.
Tivesten: Ich denke, man kann deren Bedeutung gar nicht hoch genug einschätzen. Denn während der Dreipunkt-Sicherheitsgurt bei einem Unfall Verletzungen vermindert, sorgen die neuen Systeme im Volvo EX90 dafür, dass es gar nicht erst so weit kommt.