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Fantastiska Stopp: Die Fin-de-Siècle-Hippies auf dem Monte Verità

  • 23. Oktober 2020

«Der Ort, an dem unsere Stirn den Himmel berührt …» oder wie der Hügel oberhalb Asconas vor über hundert Jahren zur avantgardistischen Gegenkultur wurde, die ihrer Zeit weit voraus war.

Der Monte Verità ist ein Kraftort. Der von der Sonne geküsste Hausberg von Ascona gilt als so energetisch, dass er auf seine Besucherinnen und Besucher belebend wirkt. Das war mitunter ein Grund, warum der Monte Verità Ende des 19. Jahrhunderts zum Zufluchtsort alternativer Lebensweisen wurde. Sie kamen von überall her: Zivilisationsmüde, Sinnsuchende, Fahnenflüchtige, aber auch Kunstschaffende, Literaten und Philosophinnen und Philosophen, die neue Gesellschaftsformen anstrebten.

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Henri Oedenkoven und Ida Hofmann, Mitbegründer

Gegründet wurde die wohl erste Hippie-Kommune der Welt von Henri Oedenkoven aus Antwerpen, der weitgereisten Pianistin Ida Hofmann, dem Künstler Gusto Graeser und seinem Bruder Karl Graeser, einem Ex-Offizier aus Transsilvanien. Sie kauften 1900 das ursprünglich 1,5 Hektar grosse Stück Land auf dem verwilderten Weinberg «Le Monesce» oberhalb des Lago Maggiore für 150’000 Franken. Sie nannten ihn «Berg der Wahrheit», ein Ort der Reinheit, wo der Mensch im Einklang mit der Natur leben konnte. Als Wahrheitssuchende wollten sie auf dem «Monte Verità» eine alternative Gesellschaft errichten, jenseits von Kapitalismus oder Kommunismus, frei von Konventionen oder Klassen. Ihre angestrebte Gesellschaftsform beinhaltete weit mehr als nur Veganismus, Yoga, Tanz, Gymnastik oder Freikörperkultur, sondern hatte auch politische Ideen, die ihrer Zeit weit voraus waren: Frauen-Emanzipation, Gewissens-Ehe, neue Erziehungsformen und Besitzlosigkeit.

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Fotograf: E. Steinemann, Harald-Szeemann-Fonds, Monte-Verità-Stiftung, Rechte unbekannt
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Fotograf: E. Steinemann, Harald-Szeemann-Fonds, Monte-Verità-Stiftung, Rechte unbekannt

Auf dem Monte Verità bauten die Kommunarden erst nur einfache Hütten, bestellten Gärten und Felder. Mit mässigem Erfolg – der Boden war hart und trocken. Es kamen immer mehr und sie waren überrascht, wie die romantische Vorstellung einer freien Gesellschaft der harten Wirklichkeit wich. Denn die mühsame Feldarbeit war sehr anstrengend und dementsprechend wenig beliebt. Der Unterschied zu anderen Tessiner Bauern lag vor allem an ihrem Äusseren. Die langen Haare und «Reformkleidung» der Kommunarden fiel auf, sodass man im Dorf Ascona über die Sonderlinge vom Hügel den Kopf schüttelte. Man kann es ihnen nicht übel nehmen. Immerhin sollte es noch hundert Jahre dauern, bis der Lebensstil der Monte-Verità-Bewohner modern werden sollte.

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Ackerbau 1907, © Wikipedia, Ullstein-Verlag, Charlotte Janz

Schon von Beginn an hatten die Gründer die Intention, eine Naturheilanstalt zu errichten, ein Sanatorium, wo die Menschen von der Zivilisation genesen konnten. So entstanden einfache Licht-Luft-Hütten, die Platz boten für 36 Kurgäste, die für einen 30-tägigen Aufenthalt 100 Franken zu bezahlen hatten. Dazu gehörten naturnahe Therapien wie Licht- und Luftbäder ohne Kleidung, Kneippbäder, Lehmbäder oder das Erdschlafen. Wichtig war dabei auch die Ernährung, die rein pflanzlich war. Fleisch, Nikotin, Kaffee oder Alkohol waren streng verboten, weil sie gemäss ihrem Gedankengut sowohl Geist als auch Körper vergifteten.

Der Monte Verità hatte auch eine grosse Anziehungskraft auf die Boheme jener Tage. Künstlerinnen, Schriftsteller, Philosophen, Theosophen, Musikerinnen, aber auch die gelangweilte Jeunesse dorée sahen in der anarchistischen Naturverbundenheit eine Romantik, die es in den grossen Städten nicht gab. Die Liste der intellektuellen Prominenz, die sich hier Gedanken um die Zukunft der Gesellschaft machten, ist endlos.

Nur die wenigsten sahen in der Sonne des Tessins die dunklen Wolken kommen, die sich bedrohlich über Europa zusammenzogen. Ausgerechnet der Erste Weltkrieg sollte die pazifistische Insel am Lago Maggiore zum Untergang zwingen. Der Sanatoriumbetrieb kam während des 1. Weltkrieges zum Erliegen, da immer weniger internationale Kurgäste kamen. Das Geld wurde immer knapper. 1917 lockerte Oedenkoven sogar die Ernährungsvorschriften und liess im Sanatorium auch Fleischspeisen zu. Auch half es nicht, dass sich der Monte Verità zusehends zu einem Versteck fahnenflüchtiger Soldaten entwickelte.

Die Gründer sahen ein, dass das Paradies verloren ist. Hinzu kam, dass sich die Gründer Henri Oedenkoven und Ida Hofmann privat entliebten, weil sich der Belgier in eine Engländerin verliebte, welche die freie Liebe kategorisch ablehnte. So verliess Oedenkoven mit seiner neuen Familie, aber auch mit Ida Hofmann, den Monte Verità und wanderte 1920 nach Brasilien aus, wo Ida Hofmann 1926 starb. Auch wenn die Visionäre der ersten Stunde gegangen sind, die Magie ist geblieben.

Eduard_von_der_Heydt_(1882–1964)_um_1929
Eduard von der Heydt um 1929

1926 erwarb Baron Eduard von der Heydt, unter anderem Bankier des Ex-Kaisers Wilhelm II. und grösster Sammler zeitgenössischer Kunst, den Monte Verità. Der Baron richtete sich in der Casa Anatta ein, dem von Oedenkoven im theosophischen Stil erbauten Repräsentationshaus, das mit den abgerundeten Ecken, Schiebetüren, grossen Fenstern und gewölbten Räumen, welches das neue Zuhause für seine aussergewöhnliche Kunstsammlung werden sollte.

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Museum in der Casa Anatta, © Wikipedia, Bobo11, CC BY-SA 4.0

Ganz anders sollte sein geplantes Hotel werden. Er beauftragte den Architekten Mies van der Rohe, einen vom Bauhaus geprägten rationalen, funktionalen Bau zu errichten. Dem 1929 eröffneten Hotel ist es zu verdanken, dass der Monte Verità nicht vergessen wurde, sondern zum Pilgerort von Bauhaus-Architekten und -Fans wurde. Von Ise Gropius soll der Ausspruch stammen: «Der Ort, an dem unsere Stirn den Himmel berührt …»

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Hotel Monte Verità, © Wikipedia, LittleJoe, CC BY-SA 3.0

Nach dem Tod des Barons im Jahr 1964 ging der Monte Verità auf seinen Wunsch hin an den Kanton Tessin über. Die Casa Anatta, die als das «originellste Holzhaus der Schweiz» bezeichnet wurde, drohte zu verfallen. 1978 wurde sie reaktiviert und ist seit 1981 ein Museum, das die Geschichte des Monte Verità erzählt und von April bis Oktober öffentlich zugänglich ist.

Noch heute ist die Magie auf dem Monte Verità zu spüren, welche die Gründerinnen und Gründer hier sahen und kultivierten. Es ist auch heute noch ein Ort der Einkehr. Auf dem Plateau gibt es heute eine Teeplantage, wo seit 2005 rund 1000 Teegewächse gedeihen. Der Teeweg («Il sentiero del tè»), welcher der traditionellen japanischen Philosophie entspricht, führt durch den herrlichen Teegarten. Das philosophische Element besteht darin, dass eine Begehung dieses Weges dabei hilft, den Stress des Alltags zu vergessen.

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© www.casa-del-te.ch

Der Monte Verità ist aber auch ein Zeugnis einer bewegten Kulturgeschichte, die sich architektonisch manifestiert hat. Von den einfachen Hütte, den theosophischen Eigenkonstruktionen bis hin zum Bauhaushotel, dessen radikales Aussehen für mehr Aufsehen sorgte als die Nackten im Wald. 2008 wurde das Hotel Monte Verità aufwändig restauriert.

Der heute 75’000 m2 grosse Naturpark Monte Verità ist auch eine Reise in eine Vergangenheit, die weltweit einzigartig war und immer noch ist. Die Geschichte dieses Ortes ist so interessant, dass zurzeit die Dreharbeiten für einen deutschen Film über die Bewohnerinnen und Bewohner des Monte Verità stattfinden.

Titelbild: © iStock.com / FotoMaximum

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