Der Unternehmer Ruedi Noser sitzt als Vertreter der FDP für den Kanton Zürich im Ständerat. Wenn es nach ihm ginge, sollte die schweizerische Verwaltung weit mehr digitalisiert sein. Noser ist aber auch der Meinung, dass es keinerlei Grund gibt, rund um die Uhr online zu sein.
Herr Noser, die Grenzen zwischen der analogen und der digitalen Welt werden immer fliessender. Was bedeutet das für den Menschen?
Es ist eine Herausforderung, weil sich die geforderten Fähigkeiten grundlegend verändern – und das sehr schnell und fortlaufend. Nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch privat. Ich kann mir heute zum Beispiel gar nicht mehr vorstellen, ohne E-Mail zu leben. Diese Entwicklung ist einerseits herausfordernd, andererseits bedeutet sie auch eine riesige Chance, weil das der einzelne Mensch mehr Möglichkeiten hat, zu kommunizieren, unternehmerisch tätig zu werden oder sich kreativ zu verwirklichen.
Es liegt nun an uns, eine Kultur zu entwickeln, in der wir dieses Potential auch wirklich nutzen können.
Sie engagieren sich sehr stark für die Förderung der Digitalisierung. Wo steht die Schweiz heute im internationalen Vergleich?
Wir sind gut positioniert, haben aber durch unsere Kultur einige Defizite, die wir korrigieren müssen. Wenn jemand eine gute Idee hat, brütet er sie in der Regel erst einmal ein Jahr lang im stillen Kämmerlein aus. Erst macht man ein Funktionsmuster, bevor man seine Idee im engsten Bekanntenkreis vorstellt. Wenn man das getan hat, sucht man den ersten Kunden. Der sollte möglichst in Zürich sitzen und bereits ein Bedürfnis nach dem entwickelten Produkt oder der entwickelten Dienstleistung haben – das heisst, wir setzen voraus, dass der Markt für unsere Innovationen bereits besteht. Erst dann entwickelt man den Prototypen und erst wenn der funktioniert, bietet man das Produkt dem Kunden an.
Der ganze Prozess dauert auf diese Weise zwischen 3 und 5 Jahren. Die Digitalisierung verlangt aber, dass man „gross denkt“, seine Innovation von Anfang an global skaliert und eine weltweite Präsenz anstrebt – sonst wird man im Wettbewerb der Ideen verdrängt: The winner takes it all.
Dieses Prinzip steht im Widerspruch zu unseren tief verwurzelten Qualitäts- und Perfektionsanspruch. Das führt dazu, dass wir zwar sehr oft sehr gute Ideen haben, diese guten Ideen dann aber an ein anderes Unternehmen verkauft werden, dass die Skalierung beherrscht und die Idee gross macht. Hier müssen wir gegensteuern: Indem wir die Forschung stärken, können ausländische Spitzenkräfte in die Schweiz kommen, die einen anderen Mindset mitbringen. In der Kombination der schweizerischen und der ausländischen Innovations-Kultur sehe ich enormes Potential.
Wie kann die Digitalisierung vorangetrieben werden? Könnte das mitunter durch die ausländischen Spitzenkräfte passieren?
Unbedingt! Und zwar durch Investitionen in die Forschung. Das ist der effizienteste Weg für die Schweiz.
Was bedeutet die zunehmende Digitalisierung für die Schweiz als Nationalstaat?
Mit Blick auf den Nationalstaat und das Territoriale hat die Digitalisierung meiner Meinung nach zwei Konsequenzen: Auf der einen Seite führt die Digitalisierung dazu, dass der eigene Wohnort, das Lokale an Bedeutung gewinnt. Auf der anderen Seite sind wir heute global vernetzt und können nationalstaatliche Grenzen ohne weiteres überwinden. Die EU als Staatenbund ist ein Gebilde aus der analogen Zeit. Digitalisierung heisst, dass ich mich mit Leuten auf der ganzen Welt, sei es in Vietnam, China oder den USA, kurzschliessen und gemeinsam an einem Projekt arbeiten kann. Die Herausforderungen unserer Zeit sind heute schon global, nicht europäisch.
Was meinen Sie genau mit der Aussage, dass der eigene Wohnort, das Lokale an Bedeutung gewinnt?
Wenn Sie global unterwegs sind, Ihr Produkt global anbieten und Ihre Kunden auf der ganzen Welt verteilt sind, bekommt Heimat eine ganz neue Bedeutung und Qualität. Man ist dank Internet am Arbeitsplatz und unterwegs zwar mit der ganzen Welt verbunden, doch die analogen Bedürfnisse bleiben bestehen und werden teilweise sogar noch stärker. Man kann sich nicht virtuell mit Freunden auf ein Bier treffen.
Sie haben Regulatorien als eine Herausforderung, der wir uns stellen müssen, erwähnt. Welche anderen Herausforderungen müssen wir als Nationalstaat Schweiz in Angriff nehmen?
Ein wichtiger Schritt betrifft die Verwaltung: Wir müssen unsere ganzen Staatsverwaltungen digitalisieren. Ein Umzug sollte beispielsweise zu 100% digital möglich sein, ohne den Gang aufs Amt.
Wo stehen wir da, Ihrer Meinung nach, im internationalen Vergleich?
In diesem Bereich stehen wir im internationalen Vergleich schlecht da. Die Schweizer Behörden arbeiten teilweise noch wie in den 50er-Jahren. Viele Prozesse laufen noch immer analog, was sehr teuer ist.
Hier liegt ein beträchtliches Sparpotenzial und es ärgert mich, dass wir dieses Potential im Moment noch nicht ausreichend nutzen. Wir sparen bei Schulen, Universitäten oder im Gesundheitswesen, aber in der Verwaltung wird nicht gespart. Ehrlicherweise könnten wir schon heute rund 30% der Verwaltungsprozesse digitalisieren und so die Verwaltung um 20-30% reduzieren – ohne spürbare Qualitätseinbussen. Aber der Wille dazu scheint nicht gegeben. Ein moderner Staat, ein moderner Kanton, eine moderne Stadt – das scheint niemand im Fokus zu haben.
Sehen Sie auch Schattenseiten der Digitalisierung hinsichtlich des Menschen und des Zusammenlebens?
Die Diskussion um die Schattenseiten der Digitalisierung ist aus meiner Sicht müssig. Natürlich kann man darüber nachdenken, wie die Digitalisierung uns verändert und wer möglicherweise zu den Digitalisierungsverlierern zählt. Diese Diskussion darf aber nicht in einer Verweigerungshaltung münden. Die Digitalisierung ist eine Tatsache – wir müssen akzeptieren, dass die digitale Transformation stattfindet, Schattenseiten hin oder her. Wenn wir uns auf die Schattenseiten dieser Entwicklung konzentrieren, sind wir blind für die zahlreichen Chancen und Potentiale.
Ich würde die Frage positiv formulieren – für die Schweiz könnte dies etwa heissen: Wie gelingt eine sozialverträgliche Digitalisierung? In diesem Bereich stehen wir vor einer herausfordernden Aufgabe. Gegenwärtig ist die Digitalisierung nur in der angelsächsische Kultur wirklich verankert – unser Beitrag als Schweiz mit unser eigenen Kultur fehlt bisher.
Die Digitalisierung sozialverträglich umzusetzen, bedeutet, dass die Schweizer Kultur eine wichtige Rolle spielen muss. Das Individuum und die Privatsphäre spielen in unserer Kultur beispielsweise eine andere Rolle als in der amerikanischen oder der asiatischen. Uns sind andere Werte, Normen und Prinzipien wichtig. Das sollten wir als Chance und Auftrag verstehen: Wir müssen Digitalisierung interpretieren – als Schweizerinnen und Schweizer, vor dem Hintergrund unserer Kultur. Wenn die Schweiz an vorderster Front mit dabei ist, kann es uns gelingen, uns in der Ausgestaltung, der Definition von dem, was Digitalisierung heisst, einzubringen.
Tragen Organisationen einen Beitrag dazu bei, die Digitalisierung voranzutreiben und wo sehen Sie die Verantwortung von Organisationen?
Die Ausgangslage aus Sicht der Unternehmen ist simpel: entweder die digitale Transformation gelingt oder man wird nicht überleben. Die Wirtschaft macht nicht mit, weil sie will, sondern weil sie muss. Wenn wir die Grossbanken betrachten, ist es dasselbe: Wenn sie die Digitalisierung heute nicht ernst nehmen, wird es sie morgen nicht mehr geben.
Die Verantwortung für die Umsetzung liegt aus meiner Sicht aber nicht primär bei den Organisationen. Jeder einzelne Mitarbeitende muss die Digitalisierung mittragen und Verantwortung übernehmen. Jeder Mitarbeitende in der Schweiz kann digitale Informationsplattformen, Apps und Social Media nutzen und sich so aktiv mit der Digitalisierung auseinandersetzen.
Natürlich kann man sich auch verweigern. Doch wer die Tools sinnvoll nutzt, wird rasch feststellen, dass viele die Arbeit erleichtern.
Schauen wir also auf die Administrationen: Wen sehen Sie dort in den Verantwortung, diese Veränderung voranzutreiben?
Bei den Institutionen ist die Situation eine andere: Diese Organisationen wird es auch in fünf Jahren noch geben, egal, ob sie die digitale Transformation aktiv angehen oder nicht. Sie müssen aber mitmachen und damit haben sie eine wichtige Aufgabe. Das heisst, auch die behäbigen Institutionen in der Schweiz sind gefordert, endlich zu partizipieren.
Welche Rolle kommt Ihrer Meinung nach den Kulturschaffenden in der Digitalisierung zu und welchen Stellenwert hat Kunst in diesem Zusammenhang?
Meiner Meinung nach wird der Standort Zürich nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, die Kunsthochschule und die ETH zu einer Einheit zu verbinden. Technologie hat immer auch eine kulturelle und gesellschaftliche Dimension und umgekehrt reflektiert die Kunst neben gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen häufig auch technologische Aspekte. Der Touchscreen hat sich beispielsweise nicht nur technologisch durchgesetzt, er verändert auch unsere Wahrnehmung, unseren Umgang mit Sprache, Text und Bild. Auf der anderen Seite bedienen sich Museen, Künstler und Musiker heute moderner Technologien, um Inhalte interaktiv erfahrbar zu machen.
Hier gilt es, die Vorteile eines interdisziplinären Ansatzes zu nutzen. Daher wäre es wichtig, die Kunsthochschulen und die ETH zusammenzuführen. Das ist ein ganz wichtiger Auftrag an die Stadt Zürich, in diesem Zusammenhang die Digitalisierung zu schaffen.
Sind Sie selbst digitaler im Alltag unterwegs als andere?
Ich kann sicher noch mit den 30-Jährigen mithalten, aber wenn ich mich mit einem Teenager messe, wird es schwieriger (lacht).
In welchem Lebensbereich würden Sie sich denn gerne die analoge Welt zurück wünschen?
Ich komme gerade aus zwei Wochen Ferien ohne Smartphone zurück – ein gutes Erlebnis! Die Technologie ermöglicht uns heute, drei Tage offline und dann innerhalb eines halben Tages wieder online und auf dem aktuellsten Stand zu sein. Das ist ein grosser Vorteil der neuen Kommunikationsmittel, der meiner Meinung nach zu wenig genutzt wird. Niemand wird produktiver, indem er rund um die Uhr online ist.